Theodor Itten
Das ferne Gefühl: Rupert Sheldrakes "Der siebte Sinn des Menschen"

aus: Forum Schweiz/Suisse (ASpV) Schweizer Charta für Psychotherapie, S. 62-64 (2005)

Vor ein paar Tagen griff ich zum Telefonhörer, stellte die Rufnummer eines Freundes in Wien ein, der hob sofort ab und sagte: Soeben hab ich deinen letzten Brief zu Ende gelesen und wollte dich nun anrufen. Kennen Sie solche, im ersten Moment immer wieder erstaunliche Erlebnisse?

Als Psychotherapeut spüre ich während einer Konsultation öfters, wie eine spezifische Frage an die Patientin in mir aufsteigt. Früher, in meinen ersten Praxisjahren hätte ich die Frage gestellt. Jetzt warte ich erst mal ab, was passiert. Sie beginnt etwas Episodisches zu diesem, meinem inneren Fragenkomplex zu erzählen. Wie viele von uns kennen diese Erfahrung? Als ob wir Gedanken und Absichten innerlich „lesen“, d. h. wahrnehmen können? Es sind natürliche, zum Leben gehörende Fähigkeiten, diese Vorahnungen. Laut der These, die Rupert Sheldrake in seinem jüngsten Buch (Der siebte Sinn des Menschen: Gedankenübertragung, Vorahnungen und andere unerklärliche Fähigkeiten; übersetzt von M. Schmidt; Frankfurt am Main, 2003) vertritt, sind die oft noch als unerklärliche geltenden Fähigkeiten, wie Telepathie, das Gefühl, angestarrt zu werden, und andere, keineswegs paranormal, sondern ein Teil unserer biologischen Natur. Einige von uns haben diesen Aspekt unseres evolutionären Erbes verloren oder vernachlässigt. Andere wiederum kultivieren diese natürlichen, in jedem von uns schlummernden Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten werden erlebt. Sie sind eine Tatsache.

Als Seelenkundler ist mir dieses Phänomen längstens bekannt, nur wurden diese wichtigen menschlichen Fähigkeiten im Scheinwerferlicht der kartesischen Glaubenswissenschaft vielfach tabuisiert. Diese erlebten Phänomene wurden von Skeptikern schnell als geisteswissenschaftlich nicht relevant und in ihrer Tatsächlichkeit als nicht empirisch beweisbar in den Grenzbereich der Psychologie, die Parapsychologie, abgeschoben.

Der Begriff Telepathie geht auf das griechische „tele“, „fern, weit“, wie in „Telefon“, „Telegramm“, und „pathos“, „Gefühl, Leiden“, wie in „Empathie“ und „Sympathie“, zurück; er bedeutet „fernes Gefühl“. Schon unsere großen Berufsvorfahren Sigmund Freud und C. G. Jung beschäftigten sich intensiv mit diesen fernen oder ausgeweiteten Gefühlserlebnissen. In ihrem regen Briefwechsel kamen sie des öfteren auf das ferne Gefühl zu sprechen. Freud ließ seine Aufsätze zu diesen für ihn oft verblüffenden Vorkommnisse der Gedankenübertragung zwischen Therapeut und Patient unter seinen Wiener Mitarbeitern nur geheim zirkulieren, zitiert Sheldrake seine Quellen. Als auch er, der ganz große Seelenkundler unter uns, beugte sich intellektuell rationalisiert dem Tabu, so genannte okkulte Tatsachen ernst zu nehmen. Viele unter uns tun es hundert Jahre danach immer noch Freud gleich. Sie halten diese Erfahrungen von Gedanken- und Gefühlsübertragungen noch immer hinter dem Vorhang zurück. Doch es gibt sie, die mutigen ForscherInnen, wie Elisabeth Lloyd Mayer aus Berkeley in Kalifornien, die eine ganze Reihe von Beispielen aus ihrer psychotherapeutischen Praxis veröffentlicht hat. Sheldrake zitiert sie mit wissenschaftlich freudiger Genugtuung. Es sind ja, wenn wir ehrlich sind, ziemlich normale klinische Erfahrungen. Robert Stoller, Psychoanalytiker, publizierte 2001 einen weit herum beachteten Aufsatz mit dem Titel „Telepathische Träume“ (Jounal of the American Psychoanalytic Association 49, 2001). Stoller beschreibt, wie ein Patient ihm einem Traum erzählte, in dem eine neue Erfindung, Häuser zu bauen, vorkam.

Am Vortag hatte ein Freund Stoller besucht und ihm von einer Unterhaltung mit einem Architekten erzählt, der genau diese Idee, die der Patient träumte, vermarkten wollte (S. 57). Erstaunt Sie das?

Von C. G. Jung wissen wir, dass er diesbezüglich weniger unter wissenschaftlichen Tabuängsten litt als Kollege Freud. Schon seine Doktorarbeit zu okkulten Phänomenen (von Prof. Eugen Bleuler, anno 1900, an der Universität Zürich angenommen) bezeugte es. Bleuler und Jung genossen diesbezüglich in den 8 Jahren, in denen sie im Burghölzli intensiv zusammenarbeiteten, regen Gedanken- und Experimentierfreudeaustausch über diese spannenden Tatsachen des Lebens.

Der renommierte englische Naturwissenschaftler Rupert Sheldrake (geboren 1942), der an der Universität Cambridge in Biochemie promovierte, in Harvard Philosophie studierte und 1981 mit „A New Science of Life“ (Das schöpferische Universum) debütierte, kommt nun in seinem 10. Buch daher und sagt: Das ferne Gefühl ist eine ganz normale Funktion der menschlichen Psychologie. Er ermuntert uns PsychotherapeutInnen, in diesem Forschungsbereich noch aktiver zu sein als Freud und Jung, und schreibt: „Wenn die Telepathie einmal als ‚eine ganz normale Funktion der menschlichen Psychologie‘ verstanden wird, werden mehr Psychotherapeuten bereit sein, die telepatischen Vorgänge zwischen sich und ihren Patienten festzuhalten und zu untersuchen. Die Forschung von Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen könnte sehr erhellend für die Wirkungsweise von Telepathie sein, insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen telepathischer Gedankenübertragung und der Kommunikation von Gedanken durch normale sinnliche Mittel“ (S. 58).

Seit gut 20 Jahren propagiert Sheldrake die Hypothese der morphischen Formenbildung, morphischen Resonanz und des morphogenetischen Feld. Seine Hypothese ist überprüfbar, da sie Voraussagen postulieren, die sich experimentell testen lassen. Verschiedene Natur- und Psychologiewissenschaftler haben es getan. Im Buch „R. Sheldrake in der Diskussion“ (1997), herausgegeben vom Physiker H.-P. Dürr, werden die Resultate kritisch besprochen und publiziert. In seinen zwei letzten Büchern, „Sieben Experimente, die die Welt verändern können“ (1995) und „Der Siebte Sinn der Tiere“ (1999), hat Sheldrake unzählige, experimentell erreichte Beweise und Erfahrungsberichte publiziert. Er nimmt an, dass es morphogenetische Felder gibt, die ähnlich wirken wie elektromagnetische Felder. Wenn lebendige Organismen von dieser Art von Feldern gebildet oder aufgebaut werden können, müssen die Felder selbst eine Struktur oder Ordnung besitzen, die ihrerseits erklärungsbedürftig ist. Sheldrakes Hypothese versucht eine Annäherung an eine Erklärung. Diese Felder beziehen ihre Struktur von der tatsächlichen Struktur ähnlicher Organismen aus der Vergangenheit. Sie beziehen sie über eine Raum und Zeit übergreifende Verbindung, sodass die Felder eine Art kumulatives Gedächtnis der betreffenden Art darstellen. Die Psychotherapie könnte also auch als ein Beispiel eines solchen Erlebnisfeldes gesehen werden. In seinem jüngsten Werk, das in der Originalausgabe den Titel eines Experiments trägt – „The Sense of Being Stared At“ –, das in der guten deutschen Übersetzung „die Kraft der Aufmerksamkeit“ genannt wird, legt Sheldrake uns weitere empirische Daten vor. Obschon der grundlegendste Beweis für die Existenz des siebten Sinns das persönliche Erlebnis ist, haben viele Sozial- und Geisteswissenschaftler diese Geschichten ignoriert oder als Spinnereien abgetan. Da ist nicht wissenschaftliches Verhalten, sondern subjektive Glaubensdogmatik.

Die Fallgeschichten, wie wir PsychotherapeutInnen sie kennen, bilden zusammen mit den Experimenten die natürlichen und wesentlichen Erfahrungsgrundlagen, auf der diese Forschung weiter aufbaut. Wie einfach sich diese Phänomene des siebten Sinns des Menschen erforschen lassen, zeigt uns dieses Buch tabubefreit auf.

Wie funktioniert z. B. das Gefühl des Angestarrtwerdens? „Manche Menschen mögen das Wort Feld vielleicht lieber nicht verwenden, sondern vielmehr Begriffe wie Schwingungen, Energieströme, Ch’i oder nichtlokale Quanteneffekte, die der Beobachter mit dem verbindet, was er beobachtet. Aber welche Begriffe man auch bevorzugt – das Gefühl des Angestarrtwerdens muss auf einem Einfluss des Schauenden auf die angeschaute Person, auf einer nach außen gerichteten Projektion von Einflüssen beruhen. Dieses Gefühl offenbart, dass der Geist durch die Kraft der Aufmerksamkeit mit der Welt jenseits des Körpers verbunden ist.“ (S. 275)

Es gelingt dem sehr belesenen Autor aus den vielen älteren und neueren Dokumentationen der Welt der Parapsychologie, wie z. B. Präkognition in der Ethnologie des bösen Blickes, Telepathie am Telefon, Gedankenübertragung im wissenschaftlichen Versuch, in eine elegante, textkritischen Zusammenfassung zu bringen. Er zitiert oft aus seiner großen Database, in der die experimentellen Resultate seiner Forschungen sowie die Daten von Forschungen anderer WissenschaftlerInnen gespeichert sind und werden. Die Erkenntnis, die er mit uns teilt, ist die, dass, wie die bekannten fünf Sinne in unserem Wesen zusammenwirken, so auch der siebte Sinn mit unseren Sinnen zusammenwirkt. Er ist keine Alternative oder gar Ersatz, sondern ein seelisches Erlebnisphänomen, das in unserem sozialen Feld auftritt und dank der Kraft der Aufmerksamkeit somatisch wahrgenommen werden kann.

Der zweite Teil des Buches ist ganz diesen Bemühungen gewidmet. Sheldrake dokumentiert hier die vielseitigen Resultate seiner Forschungen zum Gefühl, angestarrt zu werden. Die detaillierten Ergebnisse haben ein bemerkenswertes, dauerhaftes Muster. Die Trefferquoten bei den Blickversuchen waren positiv und statistisch gesehen unglaublich signifikant. Seinen Kritikern, die seinen Resultaten nicht trauten, seine Experimente wiederholten und ähnliche Resultate wie Sheldrake erzielten, also die These nicht falsifizieren konnten, antwortet er vertieft. Er verweist sie, und uns, auf das „Amsterdamer Experiment“, das größte Experiment (seit 1995), das jemals in Verbindung mit dem Gefühl des Angestarrtwerdens durchgeführt wurde. Über 18.700 Beobachter-Testperson-Paare haben bislang daran teilgenommen. Sheldrake schreibt: „Die statistische Signifikanz der positiven Ergebnisse ist astronomisch: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Zufall beruhen, liegt bei eins zu 10 hoch 376.“

In seinen Schlussfolgerungen weist er darauf hin, dass nicht zu wenig oder zu selten über das Gefühl des Angestarrtwerdens geforscht würde oder Forschungen in diesem Gebiet besonders schwierig oder kostspielig seien. Im Gegenteil. Es sind nach wie vor die mächtigen Tabus, die unser Forschen und Denken behindern. Die Realität des Gefühls, angestarrt zu werden, stellt einige fundamentale Doktrinen des Rationalismus als modernes naturwissenschaftliches Glaubenssystem in Frage. Sheldrakes Forschungsmethode und Forschungsresultate verweisen immer wieder auf ein neues Verständnis der Natur des Geistes. Sie glauben das nicht? Ihre Meinung in Ehren, doch lesen Sie lieber selber, damit Sie wissen, was Sie glauben, und glauben, was Sie wissen.

Zum Schluss noch eine schweizerische Anekdote zur Fernwirkung von Absichten. Es ist die Geschichte eines besonders beeindruckenden Ehemanns, der zufällig ein Nobelpreisträger ist, Professor Richard Ernst, Zürich. Sheldrake erzählt: „Im Jahr 2000 erfuhr ich von seinen verborgenen Gaben, nachdem ich in einem Vortrag auf der Jahreskonferenz der Schweizer Akademie der Wissenschaften von meinen Forschungen über Tiere, die die Rückkehr ihrer Besitzer antizipierten, berichtet hatte. Beim Abendessen saß ich seiner Frau gegenüber. Da machte sie eine rätselhafte Bemerkung: ,Mein Mann glaubt zwar nicht, was Sie sagen, aber er kann es selbst!‘ Natürlich fragte ich sie, was sie damit meine. Sie erzählte mir, als sie einmal ihre schwer kranke Mutter in Zürich besuchte, wusste sie nicht im Voraus, wann sie wieder nach Hause kommen würde, sie rief ihren Mann aber auch nicht an, um ihm zu sagen, welchen Zug sie nehmen würde. ,Als ich an kam, wartete mein Mann am Bahnhof auf mich. Er konnte nicht erklären, woher er wusste, mit welchem Zug ich kam. Er sagte einfach, er wollte mich abholen, um sicherzugehen, dass ich gut angekommen sei.‘“ (S. 126)

So entflechten wir die Gitternetze des dogmatischen Denkens in einen feinen Leitfaden, der uns aus dem Labyrinth des Tabus führt.

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors