aus: New Scientist, 19. Juli 2001 - Rubrik „Personally speaking"
Warum läßt man Schulkinder ihre Versuchsbeschreibungen immer noch unpersönlich im Passiv verfassen, so als ob die Versuche sich von allein ereigneten?, fragt Rupert Sheldrake
„Das Reagenzglas wurde sorgfältig zugeschmolzen." Als ich diesen Satz im Versuchsheft meines 11-jährigen Sohnes las, das dieser für den Naturwissenschaftsunterricht führte, war ich verwundert. In der Grundschule waren seine Versuchsbeschreibungen lebendig und anschaulich gewesen, doch nachdem er auf die weiterführende Schule gewechselt war, wurden sie hölzern und voller Passivkonstruktionen. Das war kein Zufall. Seine Lehrer verlangten von ihm, so zu schreiben.
Als ich zur Schule ging, zwangen mich die Lehrer, im Passiv zu schreiben, doch ich hatte keine Ahnung, dass das heute immer noch so ist. Seit meinem Abschluss an der Universität Cambridge erschien mir die aktivische Ausdrucksweise („Ich habe getan") viel angemessener für wissenschaftliche Texte als die passivische („Es wurde getan"). Experimente laufen nicht auf geheimnisvolle Weise vor den Augen unpersönlicher Beobachter ab. Wissenschaft wird von Menschen gemacht, und wenn man sie als menschliche Tätigkeit darstellt, verliert sie dadurch nicht, sondern sie wird dargestellt als das, was sie ist.
Der Passivstil ist nicht nur irreführend, sondern auch entfremdend. Eine junge Medizinstudentin erzählte mir, es habe sich „zuerst so fremdartig angefühlt", als ein Dozent sie bat, ihre Berichte im persönlichen Aktiv-Stil zu verfassen. „Aber dann war es befreiend", sagte sie. „Plötzlich durfte ich wieder ich selber sein, nachdem ich über Jahre hinweg so getan hatte, als sei ich gar nicht da."
Vor kurzem bat ich den Koordinator des Norfolk Teacher-Scientist Network, Frank Chennell, herauszufinden wie Schülerinnen und Schüler nach Ansicht der Lehrer und Wissenschaftler seines Arbeitskreises ihre Berichte abfassen sollten. Von den Lehrern meinten die meisten, die Schüler sollten sich gemäß dem landesweiten Lehrplan die direkte, persönliche Ausdrucksweise aneignen, doch manche waren der Ansicht, ältere Schüler sollten das Passiv verwenden. Unter den Wissenschaftlern dieses Arbeitskreises sprach sich die Mehrzahl für die Verwendung des Passivs in wissenschaftlichen Aufsätzen aus.
Als der Präsident der Royal Society, Lord May, von diesen Umfrageergebnissen im Rundbrief des Arbeitskreises las, war er, wie er es selbst ausdrückte, „entsetzt" darüber, dass die Wissenschaftler in Norfolk sich für das Passiv aussprachen. Er sagte: „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Verwendung des Passivs in einem wissenschaftlichen Forschungsaufsatz heutzutage ein Kennzeichen zweitklassiger Arbeit ist. Auf Dauer gesehen vermittelt der Gebrauch der aktivischen Ausdrucksweise mehr Autorität, als wenn man pedantisch den Anschein erweckt, eine unpersönliche Kraft führe die Forschung durch."
Diese klare Überzeugung wird auch von anderen herausragenden Forschern geteilt, wie ich schnell herausfand, darunter dem königlichen Hofastronomen, Sir Martin Rees. Der Präsident der US National Academy of Sciences, Bruce Alberts, sagte, er befürworte eindeutig die Aktiv-Formen.
Die meisten wissenschaftlichen Fachzeitschriften nehmen Aufsätze, die im Aktiv-Stil verfasst wurden, zur Veröffentlichung an; manche fordern die Schreiber sogar ausdrücklich dazu auf, so zu schreiben, zum Beispiel Nature. Als ich die aktuellen Hefte von 55 physikalischen und biologischen Fachzeitschriften durchging, stellte ich fest, dass nur noch zwei von ihren Verfassern die Verwendung des Passivs forderten.
Soweit ich feststellen kann, kam der Passivstil in der Wissenschaft erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Mode. Er sollte die Wissenschaft objektiver, unpersönlicher und professioneller erscheinen lassen. Vor dieser Zeit benutzten die Wissenschaftler allgemein die aktivische Ausdrucksweise und die Ich-Form. Auf jeden Fall ist dies bei Isaac Newton und Charles Darwin ganz eindeutig der Fall gewesen. Seine große Zeit erlebte der Passivstil in der wissenschaftlichen Literatur in dem halben Jahrhundert von 1920 bis 1970. Doch obwohl die meisten Wissenschaftler sich von dieser Gepflogenheit schon verabschiedet haben, bestehen viele Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer immer noch darauf.
Um einen besseren Überblick zu erhalten, wandte ich mich an die Leiter der naturwissenschaftlichen Abteilungen von 262 weiterführenden Schulen in Großbritannien: 212 staatliche Schulen in Devon, im Großraum London (Camden, Ealing und Nachbarbezirke), im Großraum Manchester (Rochdale und Bury) und in Nottinghamshire, dazu 50 zufällig ausgewählte unabhängige Schulen. Von 172 Schulen erhielt ich Antworten.
Insgesamt 45 Prozent der Schulen sagten, sie forderten die Schüler auf, das Aktiv zu benutzen, während 42 Prozent das Passiv befürworteten. Den restlichen 13 Prozent war es egal, was die Schüler benutzten. Es gab einen signifikanten Unterschied zwischen staatlichen und unabhängigen Schulen: 58 Prozent der unabhängigen Schulen forderten den Gebrauch des Passiv, während es bei den staatlichen Schulen nur 37 Prozent waren. Bei der geografischen Verteilung ergab sich, dass in Devon (südlich London) der Anteil der Passiv-orientierten Schulen mit 30 Prozent am niedrigsten lag, während es in London und im Großraum Manchester 41 Prozent waren.
Einige der Lehrer, die den Gebrauch des Aktivs lehrten, waren begeisterte Befürworter. Andere sagten, sie setzten es aus reiner Notwendigkeit ein, und ein Fachleiter für Naturwissenschaften einer Gesamtschule in einem Ballungsraum meinte: „Wir sind froh, wenn wir sie dazu bringen, überhaupt etwas zu schreiben. Es wäre sehr schwer, ihnen einen Schreibstil abzufordern, der sich derart von der normalen Sprache unterscheidet." Er deutete an, dass mehr staatliche Schulen das Passiv einsetzen würden, wenn sie es nur könnten.
Andere Lehrer treten für das Passiv ein, weil sie meinen, dass die Prüfungsgremien dies so verlangen. Hieran ist etwas Wahres. Zwei der drei amtlichen Prüfungsausschüsse in England regen den Gebrauch des Passivs bei Abschlussprüfungen der Oberstufe an. Die Regierungs-Aufsichtsbehörde für die Qualität der schulischen Bildung in England (Qualifications and Curriculum Authority) vertritt in dieser Frage keinen offiziellen Standpunkt.
Die meisten der Lehrer, die sich für das Passiv stark machen, tun dies nach eigenem Bekunden einfach weil es so üblich sei. Ihrer Meinung nach bevorzugen führende Wissenschaftler und Fachpublikationen diesen Schreibstil immer noch gegenüber dem Aktiv. Diese Ansicht ist veraltet. Lord May sagt: „Lehrer an Grundschulen und weiterführenden Schulen sollten alle ihre Schüler ohne Einschränkungen dazu anregen, den aktivischen Schreibstil zu verwenden."
Was würde geschehen, wenn sich die Royal Society offiziell für die Verwendung des Aktiv-Stils einsetzte? Möglicherweise würden sich die Aufsichtsbehörde und die Prüfungsgremien dem anschließen. Dann brauchten Hunderttausende von Schülerinnen und Schülern der naturwissenschaftlichen Fächer nicht mehr so zu tun, als ob sie bei ihren eigenen Experimente nicht selbst dabei wären.
Die Fachlehrer für Biologie, Chemie und Physik aus meiner Umfrage, die sich für das Aktiv aussprachen, sagten, es sei „natürlicher", gebe „den Schülern wieder das Gefühl, dass dies ihre eigene Arbeit ist" und mache „die Wissenschaft persönlicher, so dass die Schüler innerlich stärker beteiligt" seien. Dem stimme ich zu. Meiner Ansicht nach wirken Passivkonstruktionen entfremdend. Sie sind hässlich und schwerfällig und mystifizieren die wissenschaftliche Arbeit.
Das Aktiv eignet sich besser, wenn es darum geht zu sagen, was Wissenschaftler tatsächlich tun. Vor allem ist es wahrheitsgemäßer.
Rupert Sheldrake
Deutsch von Helmut Lasarcyk